Wenn am 17. Oktober 1996 im Festsaal der Tübinger Neuen Aula die ersten Klänge der Vokal- und Streicherensembles unter dem Uniersitätsmusikdirektor ertönen, um einen Dies universitatis fast wie zu Kaisers Zeiten einzuleiten, knüpft die "alte, aber nie alternde" Eberhardino-Carolina (so der Uniersitätskanzler Wächter anno 1845) wieder an eine Tradition an, die in den frühen 1970er Jahren einfror, als man der auf Reformen drängenden Studentenbewegung nicht nur die Talare, sondern gleich die ganze Institution der Rektoratsübergabe- und Immatrikulationsfeiern opferte. Mit der Saalöffnung erhält Tübingen gleichzeitig den vom Uniersitätsbauamt in der Rekordzeit von nur vierzehn Monaten umfassend sanierten Mittelpunkt seines Konzertlebens zurück, der am 8. Mai 1995 nach dem Auftritt der Tⁿbinger Sinfonietta vorläufig verstummt war.
Der Festsaal der Tübinger Neuen Aula, die gute Stube der Universität, also ein eher privater Raum, ist längst schon ein öffentlicher Treffpunkt geworden: Der binnenakademische Versammlungsort von anno dazumal hat sich heute in eine multifunktionelle Begegnungsstätte verwandelt, zwar zunächst eher nolens als volens, und häufig zum Leidwesen einer vielstrapazierten Pedellenschar, die sich gerne noch länger an einen Senatsbeschluß von 1913 gehalten hätte, der die nichtuniversitäre Verwendung des Festsaals einschränkte, später aber dann doch in bewußter Öffnung des einstigen Elfenbeinturms für ein breiteres interessiertes Publikum.
Und was war diesem Publikum im Laufe der Zeit hier nicht alles an geistigen Genüssen geboten worden? Man müßte ein Walter Jens sein, um das prickelnde Flair ungezählter kultureller und intellektueller Sternstunden im Festsaal adäquat wiedergeben zu können - das maßlose Staunen vor der geballten Wucht wissenschaftlicher Vorträge, die beglückenden Einsichten in zuvor unbekannte Sachverhalte und unerkannte Zusammenhänge, die zündenden oder, je nachdem, beklemmenden Appelle der politischen Kundgebungen bei den "Reichsgründungsfeiern" und "Feiern der nationalen Erhebung" unseligen Angedenkens, die weihevollen Akademischen Trauerfeiern, mitunter sogar vor aufgebahrten Toten, das fröhliche Lachen bei witzigen Reden und kabarettistischen Darbietungen, die geschliffenen Laudationes bei Ehrenpromotionen und anderen Auszeichnungen, und immer wieder und immer aufs neue - man lese nur Otto Weinreichs Konzertkritiken in dem von Günther Wille herausgegebenen Sammelband nach - das selige Schwelgen im Reich der Töne. Dem Entzücken des Auditorium waren freilich oft enge Grenzen gesetzt in einem Saal, dessen sogenannte "Hörsamkeit" durch akustische Widrigkeiten schwer beeinträchtigt ist. Trotzdem gaben sich hier fortwährend begnadete Tonkünstler und -künstlerinnen die Ehre, von Paul Hindemith bis Mstislaw Rostropowitsch, von Ernst Jochum bis Helmuth Rilling, von Maurice Andre bis Maria Kalamkarian, von Peter Schreier bis Hannes Wader, und daß der geniale Franz Liszt bei seinem Klavierkonzert in Tübingen 1843 im Museum anstatt in der Uniersität auftrat, kann ihm nur verziehen werden, weil damals der alte Festsaal erst im Bau war. Der neue von 1931 indessen entwickelte sich dann in den vergangenen fünfzig Jahren zu einem Dreh- und Angelpunkt des klassischen Tübinger Musiklebens, nicht zuletzt dank der anerkannten Impresariokünste eines ehemaligen AStA-Kulturreferenten vom Schlage eines Helmut Calgeer.
Es war daher nur konsequent, daß gleich der erste Festakt in der Neuen Aula unter politischen Spannungen litt. Ausgerechnet der Mann, dem die Tübinger Hochschule ihren unverkennbaren Aufschwung in den letzten zehn Jahren verdankte und der auch die Triebfeder für den Bau ihres neuen Mittelpunktes war, fehlte bei der prunkvollen Einweihung am 31. Oktober 1845: Robert von Mohl. Als Landtagskandidat wegen regierungskritischer Äußerungen anfangs des Monats in Ungnade gefallen, mußte er, der noch 1841 als Rektor bei der feierlichen Grundsteinlegung eine der Ansprachen gehalten hatte, den Verlauf der Festivitäten aus der Presse entnehmen. Daß keiner seiner Kollegen dabei den Mut gehabt hatte, seine Verdienste um den Neubau öffentlich zu erwähnen, schmerzte ihn besonders, aber nicht ohne Genugtuung wird er wohl die Tatsache gewürdigt haben, daß die Staatswirtschaftliche Fakultät bei dieser Gelegenheit seinen Bruder zum Ehrendoktor ernannte, was unter den obwaltenden Umständen fast einem politischen Affront gleichkam.
Zur ersten authentischen Beschreibung des neuen Festsaals müssen wir dem in Stuttgart erschienenen "Beobachter" vom 4. November 1845 das Wort erteilen, da die Lokalzeitung die aktuelle Uniersitätsberichterstattung damals noch den auswärtigen Kollegen überließ:
"In der That - es ist ein lichter, schöner, großer Raum - dieser Saal [...].Oben zur rechten Hand in der obersten Ecke des Saales war ein eleganter Thronhimmel für den Kronprinzen angebracht, geziert mit dem Symbole der königlichen Gewalt. Der Prinz saß darunter in der Uniform eines Obersten. In einiger Entfernung ihm zur Rechten stand der geschmackvoll gearbeitete Katheder, von welchem nunmehr die Manna akademischer Weisheit fließen wird, ihm zur Linken, an der Wand des Saales hinab, waren die Sitze für einen Theil der Senatoren und Professoren angebracht. Die Sitze des anderen Theiles standen die entgegengesetzte Wand hinabgereiht. Im mittleren Theil des Saales waren lange rothgepolsterte Bänke für die übrigen Theilnehmer an der Festlichkeit. Ja, die Gelehrsamkeit hatte selbst die Sorge für die Schönheit nicht vergessen. Dem in der linken Ecke des Saales stehenden Thronhimmel schräg gegenüber hatte auf einer Gallerie die Tübinger Damenwelt Platz gefunden, zwar nicht mit blanken Schlägern, wie ihre männlichen Altersgenossen, wohl aber mit blinkenden Lorgnetten bewaffnet. Auf der entgegenstehenden Gallerie befand sich die Tübinger Liedertafel, welche einen in der That sehr schön vorgetragenen Lobgesang anzustimmen begann. Nachdem die Töne verhallt, bestieg der Rektor den Katheder. Die goldene Halskette glänzte auf dem violetten Gewand: die Kette war glänzender als die Rede selbst. [...]"
Dieser launig-ironische Journalistentext ist vor allem aus baugeschichtlichen Gründen von Bedeutung. Er liefert nämlich den überraschenden Beweis dafür, daß der Grundriß des 27,5 x 15 x 10,5 m messenden Festsaals, wie ihn ein Plan von 1841 überliefert und wie er bisher den Forschungsstand bestimmte (Detlev Lembke, Attempto 61/62), vor der Bauausführung geändert worden ist: Nicht chorgestühlartig säumten die Dozentensitze den altarähnlichen Katheder im vorderen Viertel des Saales, sondern sie nahmen von Anfang an jeweils etwa die Hälfte der beiden Längswände ein. Die beiden Thronsessel, die heute im Uniersitätsarchiv ramponiert, aber folienverhüllt einem künftigen Uniersitätsgeschichtlichen Museum entgegenträumen, waren demnach zunächst symmetrisch neben dem Rednerpult plaziert, sind dann aber spätestens 1884, als die für den Lehrkörper bestimmten Sitze vermehrt werden mußten, auf dem Podium in der rechten vorderen Saalecke unter einem Zeltdach vereint worden.
Als dann 1935 die nächste Büste für den Festsaal angeschafft wurde, war eine neue Zeit angebrochen. Auch der Festsaal war nicht mehr der alte, vielmehr hatte er nach einem tiefgreifenden An- und Umbau der Neuen Aula, der nach den Entwürfen von Hans Daiber zwischen 1928 und 1931 das ursprüngliche Volumen des Gebäudes um das Dreifache vergrößerte, dem Kleinen Senat und dem Auditorium maximum Platz gemacht. Im neuen Festsaal starrte nun, bei offiziellen Veranstaltungen von Loorbeerbäumen flankiert, Adolf Hitler in Bronze unverwandt nach vorne, bis ihm die Pedellen vor dem Einmarsch der Franzosen im April 1945 ein anrüchiges Exil zudachten - er verschwand im unterirdischen Abwassersystem, aus dem ihn Eingeweihte später jedoch wieder befreiten und als herrenloses Gut einer neuen Verwendung zuführten, vielleicht als Nazi-Devotionale, vielleicht aber auch bloß als Trophäe eines zahlungskräftigen Besatzungsoffiziers.
Die Längswände des neuen Festsaals aber blieben weiterhin vornehm kahl. Bösen Zungen zufolge verbreiteten sie die Atmosphäre von Fabrikhallen und angehenden Malern juckte es bei ihrem Anblick permanent in den Fingern. Da erbarmte sich 1955 ein spendabler Textilfabrikant der vom Wirtschaftswunder noch stiefmütterlich behandelten Uniersität und behängte die seitlichen Jochnischen mit Selbstentworfenem und -gewebtem. Aber abgesehen von einem Ehrendoktorhut der Wirtschaftswissenschaften erntete er ob der avantgardistischen Bildmotive - "Aufstand der Spulwürmer" spottete die Studentenzeitung - vornehmlich Undank. Als die Vorhänge 1967 demontiert werden sollten, brachte der Hinweis, es sei etwa ein Kilogramm reines Gold darin verwoben, das Akademische Rektoramt in einige Verlegenheit. Aus dem Dilemma erlöste es jedoch ein Gutachten des Chemischen Instituts mit dem zwar materiell enttäuschenden, ideell aber beruhigenden Meßergebnis, die Fäden bestünden zu 90 bis 95 Prozent aus Kupfer.
Nur zwei Attribute hatte der neue Festsaal 1931 erhalten: eine elektrische Orgel der Firma Friedrich Weigle von Echterdingen mit 3944 Orgelpfeifen sowie ein farbiges Glasfenster der Stuttgarter Kunstmaler Theo Walz und Rudolf Yelin in Eiffscher Glasschlifftechnik, jeweils an den Stirnseiten des mit einer Grundfläche von 36 x 18,5 m und einer Höhe von 13 m beim ersten Eindruck überwältigend groß wirkenden Raumes. Heute bietet die Orgel, die in ihren besseren Zeiten sogar zu Rundfunkaufnahmen diente, zwar noch immer einen majestätisch-eleganten Anblick, die Luft ist ihr aber schon vor geraumer Zeit ausgegangen. Das Glasfenster dagegen ist ganz verschwunden. Doch hat ebenfalls 1967, als das Fenster aus Gründen der Wärmedämmung und der Akustik zugemauert wurde, eine gleichermaßen zartfühlende wie urheberrechtliche Folgen befürchtende Uniersitätsverwaltung die damals noch lebenden Künstler aufgespürt und sie um ihr Placet zu der prosaischen Lösung gebeten. Es wurde in beiden Fällen rückhaltlos und unter gleichzeitiger Distanzierung qvon dem Werk erteilt. "Ich glaube, es ist am besten," schrieb Walz zurück, "man [...] überläßt die Wiederaufdeckung einer künftigen Generation (vielleicht beim Abbruch der Aula)."
Gemach, gemach! Von einem Abbruch ist die Neue Aula doch wohl noch ein gutes Stück entfernt. Und so wird Alexander Sumski, wie es dereinst Friedrich Silcher, sein erster Vorgänger im Amt des Tübinger Uniersitätsmusikdirektors, ebenfalls mit großem Erfolg tat, hoffentlich noch manche erhebende Feier im Festsaal musikalisch umrahmen.
Volker Schäfer
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